In einer Metrostation fallen sich plötzlich zwei Fremde in die Arme und gehen miteinander ins Hotel, später erklärt sich die Ehefrau und Mutter ihren jähen Gefühlsrausch mit dem Trennungsschmerz von „Liebenden in Kriegszeiten“. Mit diesem eindrucksvollen, demaskierenden Bild endet der neue Erzählband Deborah Eisenbergs. In ihren urbanen Geschichten erkundet die New Yorker Autorin die mentalen Veränderungen seit jenem „strahlenden, windstillen, tiefblauen Septembermorgen“, seit „all das“, wie es eine ihrer Figuren umschreibt, den „Vorhang“ der amerikanischen Selbsttäuschung zerrissen hat.
Don DeLillo sagte einmal, sein Land denke gern, dass es die Zukunft erfunden hat. Auch Eisenberg ist eine Zeitdiagnostikerin und zeigt, wie es sich lebt, nachdem Amerikas Urvertrauen in seine globale Sendung, der notorische Optimismus dieser Gesellschaft, verloren gegangen ist. „Man wartete darauf, dass dieser vernichtende Tag ungeschehen gemacht würde, damit sich die eigentlich anvisierte, die logisch aus der Vergangenheit erwachsende reale Zukunft entfalten konnte.“ Wie das Land finden sich auch Eisenbergs Protagonisten an einem toten Punkt wieder; für sie ist die Zukunft so undurchsichtig geworden wie in der Erzählung „Fenster“ das mit Plastikfolie verklebte Küchenfenster, vor dem Kristina nachts ausharrt. Und darüber grübelt, wie es dazu kam, dass sie wegen Kindesentführung gesucht wird. Dabei war es ihre eigene Lebensangst, der die ziellos dahinlebende junge Frau zum Opfer fiel. Eli, ein Individualist, der für betuchte Kunden seltene Waffen beschafft, hat mit seiner zur Schau gestellten Selbstsicherheit bei der Kellnerin leichtes Spiel. Zu spät wird klar, dass er nur eine Ersatzmutter für sein Kind braucht. Als Kristina vor Elis „großen, großen Händen“ flieht, nimmt sie Elis Sohn mit, schließlich hat sie dessen Vertrauen nur mit dem Versprechen gewinnen können, ihn anders als seine leibliche Mutter niemals zu verlassen.
„Es ist also ein Risiko, na und?“, macht sich Eli über Kristinas Zögern lustig, sich auf ihn einzulassen. Wer will, kann darin ein, freilich plakatives, Gleichnis für die Unbekümmertheit sehen, mit der die Bush-Regierung den Irakkrieg begann. Auch Elis Geschäfte gehen schief, als einer seiner Kunden Amok läuft.
Das Politische bildet Eisenberg stets die Folie ihrer Texte; über ihren bislang vierten Erzählband sagte sie, er handle vom „Untergang eines Imperiums“. Die „New York Times“ feierte Eisenberg kürzlich als „eine der wichtigsten Autorinnen der Gegenwart“. Hierzulande wartet die 1945 in Chicago geborene Erzählerin noch auf ihren Durchbruch. Ihre neue Sammlung, die in der deutschen Ausgabe seltsamerweise nur fünf statt der ursprünglich sechs Geschichten enthält, heißt im Original „Twilight of the Superheroes“, ein treffenderer Titel als „Rache der Dinosaurier“. Die eigentliche Titelstory „Dämmerung der Superhelden“ handelt von Nathaniel, der mit seinen Freunden das Loft seines Onkels in Manhattan bewohnt. Von dessen Terrasse aus starren sie nun wie gelähmt auf die „komische Leerstelle“ – ein Gegenbild zu dem berühmten Foto Thomas Hoepkers von den ungerührt plaudernden Jugendlichen, während im Hintergrund die Zwillingstürme rauchen. Eisenbergs Figuren sind für ihr Leben gezeichnet und so antriebslos wie der „Passiv-Mann“, Nathaniels bizarrer Anti-Comic-Held, der zu erschöpft ist, um den Kampf mit seinem Feind, dem bösen Captain Kommerz, aufzunehmen.
Für seine fiktiven Enkel schreibt Nathaniel ironisch über die Millenniumshysterie, als alle dachten, durch einen Computerfehler könnte die Zivilisation zusammenbrechen. „Wir hielten den Atem an ... und es war nichts. Es war ein Wunder ... weit und breit keine Katastrophe.“ Wie in früheren Erzählungen schließt Eisenberg hier die Gegenwart mit der Vergangenheit kurz: Für Nathaniels Eltern war New York einst der sichere Hafen, in den sie sich als jüdische Kinder aus Osteuropa flüchten konnten. Jetzt ist es ein Ort, wo die Simulation von Normalität das beständige Gefühl von Paranoia und drohender Apokalypse zu verdecken sucht.
Auch Nana in „Rache der Dinosaurier“, der besten Story des Bandes, stammt aus Europa, nun sitzt sie nach einem Schlaganfall gelähmt im Rollstuhl vor dem Fernseher, der Bilder von Kampfhubschraubern über der Wüste zeigt. Ihre Enkelin plappert sich pseudocool über die Abgründe in ihrem Leben hinweg und merkt nicht, wie die Politik längst ihr Privatleben infiziert hat, wie Angst und Aggression bis ins Familienleben vorgedrungen sind und der Informationsmüll der Medien jedes Gespräch unterminiert.
Eisenbergs Autopsie der amerikanischen Seele unter George W. Bush darf sich des Beifalls gerade europäischer Leser sicher sein. Ihr ästhetisches Instrumentarium ist jedoch beschränkt, sie arbeitet mit einfachen, vorhersehbaren Mitteln, meist mit Rückblenden und alternierenden Perspektiven. Spröde, aber präzise ist ihre Sprache, doch in Form nebensächlicher Bemerkungen gelingt es Eisenberg oft, die Oberfläche des Alltagslebens zu durchdringen – etwa wenn jene sich und ihren Ehemann betrügende Frau in „Fehler im Design“ über die Überwachungskameras in den Metrostationen sinniert: „Und während all diese Existenzen auf dich zuflitzen und von dir fortflitzen, spürst du ungemein intensiv, nicht wahr?, die Einzigartigkeit und die Zufälligkeit deines eigenen Lebens.“
Deborah Eisenberg: Rache der Dinosaurier. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Thomas Überhoff und Nikolaus Hansen. Carl Hanser Verlag, München 2008.
221 Seiten, 17,90 €.